Akute Appendicitis
Wandel der Indikation. Wie gehen wir heute vor?
Autoren: W. Stelter, G. Baunach und B. Hontschik*
*(Dr.med.B. Hontschik ist seit 1991 Niedergelassener Facharzt für Chirurgie in 60313 Frankfurt am Main, Zeil 65-69)
Die Appendix vermiformis ist nicht mehr wie früher, als ein überflüssiges und störendes, sondern eher als ein unbekanntes Organ zu betrachten, dem möglicherweise sogar eine spezielle Funktion im lymphatischen Abwehrsystem zukommt. Dieser Wurmfortsatz sollte die gleiche Aufmerksamkeit verdienen wie alle anderen Organe des menschlichen Körpers.
Die Appendix vermiformis ist entwicklungsgeschichtlich kein "Rudiment". Sie kommt nur bei Menschen und bei Menschenaffen vor und ist in dieser Form in der übrigen Tierwelt so gut wie unbekannt. Auch im Verlauf der Entwicklung kommt sie erst spät zustande: Sie schnürt sich erst bei der Geburt vom Coecum, d. h. vom Blinddarm, ab und weist anatomische Besonderheiten auf, die sie vom übrigen Darm unterscheidet: Der Wandaufbau - von lymphatischem Gewebe durchsetzt - gestattet keine Dehnung, sondern nur eine intraluminale Druckerhöhung, die für den Prozeß der Gewebszerstörung bei akuter Entzündung verantwortlich ist. In jüngster Zeit wurde sogar vermutet, daß die Appendektomie die Häufigkeit und auch die Lokalisation von Dickdarmkrebs beeinflussen könnte.
Die Behandlung der akuten Appendicitis ist seit den 20er-Jahren eine chirurgische Domäne. Unter dem Eindruck der hohen Sterblichkeit der akuten Appendicitis wurde die Operationsindikation immer weiter ausgedehnt bis hin zur - wie wir heute wissen - völlig überflüssigen "prophylaktischen" Operation im freien Intervall. Diese Haltung wurde im anglo-amerikanischen Raum ab etwa 1935 verlassen. Im deutschsprachigen Raum, bedingt durch die Isolation während des letzten Weltkrieges, setzte sich der Umschwung zu einer restriktiveren Indikation erst jetzt durch, nachdem es bereits in den 60er-Jahren zu heftigen Diskussionen gekommen war. In unserer Klinik hat sich infolge einer Aufsehen erregenden eigenen Studie (Dr. B. Hontschik*) die Indikation zur Praxis bei Verdacht auf "akute Appendicitis" grundlegend geändert. Es war aufgefallen, daß in den Jahren davor ein auffallend hoher Prozentsatz der Patienten, vorwiegend junge Frauen, bei der Operation der vermeintlich akuten Appendix einen normalen Befund aufwies. Durch die Auswertung der Weltliteratur wurde deutlich, daß die akute Appendicitis zu etwa 60 Prozent bei männlichen Patienten auftritt. Im Widerspruch dazu war bei unserer früheren Indikationspraxis und in der Gruppe der Fehldiagnosen etwa 70 % der Appendektomierten Frauen. Dies kann man deutlich an einer Auswertung unseres Operationsjahrganges 1982 erkennen (Abbildung rechts). Die Fehldiagnoserate war besonders hoch bei der Gruppe der 13 - 20jährigen Mädchen und jungen Frauen.
Aufgrund unserer Analysen und einer vielbeachteten und aufsehenerregenden Arbeit aus unserer Abteilung (Dr. B. Hontschik*) änderten wir ab 1985 konsequent unser Vorgehen. Für uns gibt es seitdem nur noch die akute Appendicitis als Operationsindikation, wobei diese Diagnose nachträglich sowohl durch den intraoperativen Befund als auch durch das Ergebnis der histologischen Untersuchung gesichert werden muß. Die nicht akut entzündete Appendix bedarf keiner operativen Behandlung, ihre Entfernung entspringt in der Regel aus einer Fehldiagnose. Aber: Die Diagnose einer akuten Appendicitis ist heute noch genauso schwierig wie zu Anfang dieses Jahrhunderts, denn sie entzieht sich nicht nur der Labordiagnostik, sie entgeht auch überwiegend den diagnostischen Leistungen der modernen Apparatemedizin und hat eine wechselnde, nicht standardisierbare Symptomatik. Auch weisen 10 % der operativ gesicherten Entzündungsformen z. B. Leukozytenwerte noch im Normbereich auf, darunter sogar perforierte Appendicitiden.
Die Diagnose der akuten Appendicitis ist daher auch bei sehr zurückhaltender Indikation immer noch weltweit mit einer "krankheitsimanenten"Fehldiagnoserate von 10 - 20 % behaftet.
Um diese Fehldiagnoserate an unserer Abteilung noch weiter zu senken, führten wir 1988/89 die Laparoskopie ein, was letztlich die Einführung der laparoskopischen Operationsverfahren in einer der ersten Kliniken in Deutschland in Gang brachte.
Die Appendektomie ist keineswegs so harmlos wie sie früher immer hingestellt wurde. Sie trägt alle Risiken einer abdominalen Operation in sich. Selbst bei Fehldiagnosen, also der Entfernung einer relativ gesunden Appendix findet sich noch eine Sterblichkeit von 1 auf 400. Erschrecken muß man auch über die Häufigkeit des postoperativen Darmverschlusses durch Verwachsungen, der mit einer Relaparotomie auf 100 Appendektomien nur diagnoseabhängig mit dem Eingriff und nicht mit dem Entzündungszustand der Appendix korreliert. Auch postoperative Komplikationen wie Wundheilungsstörungen, Darmlähmungen und ähnliches, war mit einer Verdreifachung der postoperativen Liegezeit einhergeht, sind in gleicher Weise zu finden.
Die Appendix vermiformis ist also mit Respekt zu behandeln!
Die akute Appendicitis stellt ein diagnostisches Problem dar, daß der fundierten klinischen/chirurgischen Erfahrung bedarf. Eine "chronisch rezidivierende Appendicitis" gibt es nicht. Die Appendektomie ist ein durchaus riskanter Eingriff.
Die Abbildung 2 zeigt, daß aus dieser Erkenntnis heraus seit 1985 die Zahl dieser Eingriffe an den städtischen Kliniken F-Höchst auf weniger als die Hälfte zurückgegangen ist. Während davor die Zahl der Frauen unter den Operierten überwog, ist seit 1985 bis heute regelmäßig die Zahl der operierten Männer höher, was für eine richtige Diagnose spricht. Die Appendektomie wird in unserer Klinik seit Mitte 1985 nur noch als Notfalleingriff vorgenommen. Die Appendektomie als Wahleingriff nach Termin, geplant auf einem täglichen Operationsprogramm, ist verlassen. Die Fehldiagnoserate sank von über 50 % seitdem auf unter 20 %. Interessanterweise blieb die Zahl der Patienten mit komplizierten Verläufen (Perforationen) mit etwa 50 - 20 pro Jahr immer gleich in unserer Abteilung.
Ein weiterer Wandel und eine Verbesserung ergaben sich durch die Einführung der Laparoskopie und der laparoskopischen Operationsverfahren seit 1989/90. Früher wurde bei begründetem Verdacht auf Appendicitis und entsprechend gestellter Notfallindikation der berühmte "kleine Schnitt" im rechten Unterbauch angelegt. Wenn dann der Wurmfortsatz nicht entzündet war, war man gehalten, ihn trotzdem zu entfernen, damit bei einer späteren Entzündung des andernfalls belassenen Wurmfortsatzes durch die Narbe nicht der Fehlschluß vorgegeben wurde, daß früher einmal der Wurmfortsatz entfernt worden sei. Dies war allgemeine Regel. Bei der Laparoskopie jedoch hat sich unser Vorgehen auch hier konsequent geändert: Finden wir einen nicht entzündeten Wurmfortsatz, wird er belassen und die Operation als diagnostischer Eingriff abgebrochen.
Nach der klinischen Untersuchung und Labordiagnostik erfolgt heute in der Regel auch eine Sonographie des Abdomens, die als ein Mosaikstein im Gesamtbild hilfreich sein kann. Bei entsprechendem Verdacht kann der Patient auch jederzeit konsiliarisch in der Gynäkologie bzw. Urologie des Hauses vorgestellt werden. Besteht am Ende begründeter Verdacht auf eine Appendicitis, erfolgt die Laparoskopie. Im Falle einer Entzündung wird die Appendix laparoskopisch oder nach entsprechendem Verfahrenswechsel auch offen entfernt. Die laparoskopische Appendektomie wird an unserer Klinik nicht mehr wie anfangs "erzwungen". Wir haben sehr rasch die Erfahrung gemacht, daß bei schwierigen Befunden, starker Entzündung und Verwachsung und Verklebung die Patienten nach dem laparoskopischen Vorgehen mehr postoperative Beschwerden haben, als nach dem offenen.
Das ursprünglich minimal-invasive Vorgehen bringt in diesen Fällen keinen Gewinn, sondern eher Nachteile, wahrscheinlich bedingt durch starke Reaktionen des Bauchfells auf die längerdauernden Manipulationen unter der Gasfüllung. Die Abbildung links zeigt eine Sammelstatistik aus einem Zeitraum nach 1990. 617 Patienten wurden unter dem Verdacht einer akuten Appendicitis in unserer Abteilung operiert. 55 % überwogen die männlichen Patienten, was für eine gut ausgewogene und restriktive Indikation spricht. In 321 Fällen konnte der Eingriff laparoskopisch beendet werden. 103 mal mußten wir auf eine offene Appendektomie "umsteigen", also in 20 - 30 Prozent. Bei 71 Patienten wurde die Operation primär offen begonnen. In 121 Fällen fand sich keine Entzündung des Wurmfortsatzes bzw. andere Krankheitsursachen, so daß diese Patienten eine Appendektomie unter einer Fehldiagnose erspart wurde. Sie hätten also ohne die Einführung der laparoskopischen Verfahren eine primäre "Fehldiagnoserate" von immerhin noch 20 % gehabt, was dem Standard der angelsächsischen Länder entspricht.
Abbildung links zeigt, daß also in 495 Fällen der Operateur die Appendix als entzündlich verändert einschätzte und sie entfernte. Nach der histologischen Untersuchung wurde in 456 Fällen, also in 92 Prozent die intraoperativ gestellte Diagnose einer akuten Entzündung auch histologisch bestätigt. Dies zeigt, daß trotzdem also ein Restrisiko einer "Fehldiagnose" bestehen bleibt, die wir damit aber auf der anderen durch Einführung der Laparoskopie auf 8 % reduzierten. Trotz unserer restriktiven Indikationsstellung kam es zu keinem nennenswerten Anstieg der perforierten Apendicaes im Jahr.
Die Abbildung zeigt, daß in beiden Gruppen eine beträchtliche Anzahl ernster postoperativer Komplikationen auftrat. Dies ist in erster Linie natürlich dadurch bedingt, daß jetzt bei uns nur noch wirklich akute und gewissermaßen "schwere Fälle" zur Operation kommen. Naturgemäß ist die Rate dieser Komplikationen bei den früheren häufigeren Operationen "gesunder" Wurmfortsätze weitaus geringer sind.
Die obige Statistik zeigt eindrucksvoll und erinnert uns auch immer wieder daran, daß die akute Appendicitis ein sehr ernst zunehmendes und schwieriges Krankheitsbild ist und keinesfalls einem in der Chirurgie noch Unerfahrenen überlassen bleiben kann, wie es der Volksmund häufig annimmt. Die Operation eines akut entzündeten Wurmfortsatzes, vielleicht schon mit Abszeßbildung und ausgiebiger Gewebereaktion, ist ein sehr anspruchsvoller Eingriff! Unser klinischer Alltag unterscheidet sich hier sehr oft von dem Bild, das die Öffentlichkeit hierüber aus der "Schwarzwaldklinik" gewonnen hat.